Die wichtigste Konferenz des Jahres hat abgeliefert. Und zwar auf einigen Feldern und auf höchstem Niveau. Und dennoch sind Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft trotz großer Umbrüche in der weltpolitischen Lage, dem langen Schatten den AGI vorraus wirft und der Opferung der Demokratie durch wirtschaftliche und politische Mächte nur Nebenschauplätze, side quests auf dem Weg in die Klimakatastrophe – wenn wir uns ihr nicht entgegenstemmen. Daher dieses mal der Prio-Reihe nach:
Prio 1: Planetary Health
Ganz zum Schluss der Re:publica betrat Johan Rockström die Bühne und sprach über die Lage des Klimawandels und aktuelle Risikobewertung. Hier geht es darum, dass durch die Aktivierung gewisser Kipppunkte im Ökosystem der Erde das Leben für uns hier nicht nur sehr ungemütlich, sondern unmöglich werden könnte. „Uninhabitable“ – einfach mal auf sich wirken lassen.
Rockström ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor für Erdsystemforschung an der Universität Potsdam, er ist auch Co-Author des Planetary Health Checks: https://www.planetaryhealthcheck.org Rockström ist trotz allem keiner, der einfach nur Alarm macht. Er zeigt nüchtern die Zahlen und Trends auf, spricht von positiven Perspektiven außerhalb Europas und den USA und erklärt was notwendig ist.
Bei allen Prophezeiungen der Zukunft blicken wir häufig nur auf eine oder zwei Trends, wie zum Beispiel KI oder „den Untergang des Westens“. Aber all dies sind nur Ablenkungen und Umwege auf dem Weg zur ultimativen Prüfung, dem Klimawandel bzw. dessen Folgen für uns Menschen und dem Ökosystem von dem wir abhängen. Zwei schockierende Fakten:
- Letztes Jahr (2024) war das wärmste Jahr seit hunderttausend Jahren.
- Der Temperaturanstieg sprang letztes Jahr um das zehnfache des „normalen“ Anstiegs, obwohl wir nach der „El Nino“-Phase waren.
Prio 2: Fight Human Fracking
Drei Vorträge bringen aus meiner Warte eine unheilvolle Allianz der antidemokratischen Wirkung verschiedener Akteure und menschlicher Schwächen in einen Zusammenhang. Casey Mock erklärte anschaulich das Prinzip der Skalierung von ausbeuterischen Plattformen auf der Basis von Nutzerdaten (Mining the Need for Human Connection in an Age of Unreality), während D. Graham Burnett in einem fulminanten Vortrag mit dem Titel „Fracking Focus: Human Attention in the Age of Algorithmic Intelligence“ erklärte warum der Kampf um unsere Aufmerksamkeit am besten mit dem Fracking der Erde zur Gewinnung von Gas und Öl verglichen werden könne und dass wir uns dem entgegen zu stellen haben.
Zurück zu Casey Mock, der sehr klar und deutlich erklärt wie das Business Modell des „American Tech Flywheel“ funktioniert und warum wir ihm entkommen müssen.
Das Ergebnis sind Dopamin-Junkies die an Apps hängen, wie andere an der Flasche oder der Nadel – und damit lassen wir unsere Jugend bereits sehr früh anfangen. Dr. Laura Wiesböck ist Soziologin und leitet die Junior Research Group „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien Wien. Aktuell beschäftigt sie sich mit den Mechanismen von Addictive Design auf digitalen Plattformen und erklärt in Ihrem Vortrag wie „Mental Health“ zu einem Motor „konsumorientierter Gesundheitsarbeit“ gemacht wird und zwar speziell zu Lasten junger Frauen.
In diesem Sinne: die Herrschaft über unsere Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, ist eine Form der persönlichen, aber auch der gesellschaftlichen Selbstverteidigung.
Prio 3: Polarisierung verstehen
Die Brücke zwischen Aufmerksamkeit und Polarisierung schlägt Phillip Lorenz-Spreen von der TU Dresden in dem er die gesellschaftlichen Kipppunkte in einer Dynamik zwischen gekoppelten Systemen erforscht – und zwar in den Medien. Präzise, messbar, beängstigend.
Wann immer von Polarisierung die Rede ist, folgt bald der Appell im Gespräch miteinander zu bleiben. Die Analytiker der Divergenz und die messianischen Brückenbauer lassen keine Gelegenheit aus, an die Protagonisten der Spaltung und ihre Anhänger hinzureden wie an ein krankes Pferd, dass sie doch im Diskurs verbleiben mögen. In sehr einleuchtender Weise erklärt Bart Brandsma warum das der falsche Weg ist und der Polarisierung eher noch nützt. Sein Bild des „Us vs. Them“ konzentriert sich darauf die Belange und Dilemmata der schweigenden Gruppe in der Mitte zwischen den Polen zu adressieren, ernst zu nehmen und zu thematisieren. Der Vortrag beginnt ebenfalls etwas verhalten, aber die Argumentation ist sehr stark, gut nachvollziehbar und für mich wegweisend.
Welche Treiber es in der Polarisierung der USA am rechten Rand gibt, haben wir in den letzten Monaten und Jahren vorgeführt bekommen: von der Thiel-Truppe am rechten TechBro-Rand (dieses Wochenende dann in Mountainhead komprimiert durchgespielt), den White Supremacists a la Steve Bannon und den christlichen Ultras von Vance bis Vought, bis zu den evangelikalen Landeiern. Schön erklärt und aufgefächert hat das auf der Re:publica Annika Brockschmidt, Historikerin und Autorin. Auch wenn man denkt, man weiß schon alles darüber, es lohnt sich es sich von ihr nochmal erklären zu lassen. Und zwar nicht nur wegen des Unterhaltungswertes, sondern weil es wichtig ist, dass Polarisierung unwahrscheinliche Allianzen hinter sich sammeln kann und dadurch absurd unterschiedliche Agendas zweitweise zusammen wirken können.
Prio 4: Künstliche Intelligenz aus anderen Perspektiven
Ich habe in meinem Alltag mit KI in verschiedenen Funktionen und Blickwinkeln ständig zu tun: als Tool, als Transformationsbeschleuniger, als Metatrend in allen Zukunftsmodellen. Auf der Re:publica ging es mit einem Basisvortrag vom immer hörenswerten Björn Ommer von der LMU los. Sein Vortrag ist sehenswert für alle die sich mit dem Thema noch nicht so auskennen, oder denen ai-2027 zu apokalyptisch ist und sich gern mal einen deutschen Wissenschaftler dazu anhören wollen.
Die unterschiedlichen Bedingungen für die Entwicklung von KI in China und Europa brachten Marielle-Sophie Düh und Frederik Heinz in einem sehr schön ausgedachten Vortrag didaktisch überzeugend auf den Punkt. Unter dem Titel „Zwischen Kafka und Kung Fu: europäische vs. chinesische Strategien für souveräne KI“ erfährt man wie Euro-Samsa auf die Beine kommen möchte und warum Panda-Bot so einfallsreich ist.
Die Highlights zum Thema waren für mich allerdings nicht-technischer Natur oder aus angrenzenden Wissenschaften. Überraschend anders, überraschend gut und am Ende auch überraschend berührend war Prof. André Frank Zimpel, Psychologe & Professor mit dem Schwerpunkt „Lernen und Entwicklung“ an der Universität Hamburg, der unter dem etwas sperrigen Titel „Hilfe, wir werden dümmer! Wie eine Symbiose aus Neurodiversität und KI die Demokratie retten könnte“ am Ende in einem Nerd-Rap mündete, der irgendwie alles zusammenfassen schien.
Sehr spannend fand ich Fatma Deniz (Professor an der Faculty of Electrical Engineering and Computer Science der Technischen Universität Berlin) Vortrag „NeuroAI: Language Representations in Humans and Machines“ der leider (noch nicht?) bei Youtube zu finden ist. Mehr zu ihr und ihrer Forschungsarbeit findet man einstweilen hier: https://www.fatmanet.com
Die Forschung ihres Teams hat zum einen gezeigt, dass bestimmte Bedeutungszusammenhänge im Gehirn bei allen Menschen, unabhängig von ihrer Muttersprache in denselben Gehirnregionen „zu finden“ sind. Das bedeutet in diesen Regionen ist eine Aktivität messbar, wenn diese Begriffe gehört oder gesprochen werden und auch das ist neu: die Aktivität ist dieselbe beim Hören wie beim Sprechen. Das ist insofern bedeutsam, weil das zur Folge hat, dass eine KI die in einem Feedback-Loop mit einer Gehinstrommessung trainiert wird, unmittelbare und auch unverfälschte Messungen zur Übereinstimmung erhält. Die Matrix lässt grüßen.
Daran (zwar nicht zeitlich, aber inhaltlich) anschließend, wie es dann mit den AI-Wearables und der Human Augmentation im Allgemeinen so weitergeht. Dazu Janosch Delcker mit „Mind-reading AI: How new technology decodes our thoughts — and how we stay in control„:
Und sonst noch?
Sehr sehr viele andere sehenswerte Vorträge und Erlebnisse. Der Wechsel der deutschen Außenpolitik gegenüber Israel wurde vom Bundeskanzler auf der kleinen Stage 5, dem WDR Europa-Studio während der Re:publica angekündigt. Außenminister Wadephul bestätigte denselben Kurs am nächsten Tag und an Tag 3 saß Kathrin Prien mit der, wie immer sehr sattelfesten Geraldine de Bastion auf Stage 1 und gab eine überzeugende Vorstellung als neue Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Alle drei keine Auftritte die man gesehen haben muss, aber ich muss gestehen, dass ich es schätze das Personal der Bundesregierung jedes Jahr auf der Re:publica in wesentlichen Teilen unmittelbar zu erleben und ein Gefühl für die Personen auf diesem Wege zu bekommen.
Außerdem sehenswert:
Katarina Nocun, wie immer gut, diesesmal vielleicht nicht so erfrischend wie 2023 „MIt Kristallen und Klangschalen gegen die neue Weltordnung„, als sie den Rechtsruck der Esoterik-Szene dokumentierte, aber auch dieses Jahr war sie hörenswert: „Unterschätze niemals die Macht der Verdrängung!„:
Markus Beckedahl’s alljährliches Update zum Stand der Dinge in der Digitalpolitik in Deutschland mit dem hoffnungsvoll bis leicht verzweifelten Titel „Eine bessere digitale Welt ist trotz alledem möglich„. Sollte man sich einfach anschauen, wenn man in dem Segment seine Brötchen verdient:
Und es gab noch viel mehr zu sehen, insbesondere Marcus John Henry Brown’s 8. und letzter Auftritt (sagt er) auf der Re:publica unter dem Titel „Happy“ ist ein Parforceritt der Vortragskunst und dient ab sofort als Primer-Video für künftige Re:Publica Speaker. Bislang waren es ganze 55 die er trainiert hat, wie er mir später verriet. Den Geheimtipp zum Speakery Summits im September, bei dem ich letztes Jahr bei der Premiere dabei sein durfte, werde ich selbstredend schön für mich behalten.
In Sachen Stage und Mottodesign habe ich jetzt so viele Jahre der guten alten Zeit nachgeweint, dass es mir jetzt egal ist. Das Programm war (wieder) topp, nicht zu selbstreferentiell und zu gemütlich wie letztes Jahr. Einfach gut, breit, tief. Der Rahmen in der Station funktioniert, das Catering ist sehr spärlich und viele Kleinigkeiten könnten besser organisiert sein. Beim Bitkom-Transform Kongress im Frühjahr konnte man das am selben Ort alles sehen, aber darüber habe ich keinen Artikel geschrieben. Der Kongress war nicht mal schlecht, aber den inhaltlich mit der re:publica zu vergleichen ist lachhaft.
Insofern einfach alles gut liebe Re:publica! Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage.