rp19: Widerstand gegen die Postmoderne

Nach einem Jahr Abstinenz (ich musste Radfahren gehen), war ich dieses Jahr endlich wieder auf der re:publica! Dies war damit mein 10. Besuch.

Als Erstes hätte ich die re:publica in die Backe kneifen sollen und sagen „Menschenskind, bist Du aber groß geworden!“. Aber niemand sagt mehr „Menschenskind“ und die re:publica war schon länger gefühlt genau so groß. Es sind dieses mal auch neue Areale mit dem Technikmuseum dazu gekommen, aber, um es gleich vorweg zu nehmen, bis dahin bin ich nicht gekommen.

Dafür habe ich mich an ein paar meiner Vorsätze erinnert und mich halbwegs ordentlich vorbereitet. Neben dem Durchgehen des Programms und der Auswahl der Beiträge die mich interessieren, habe ich auch nochmal das gesamte Speaker-Verzeichnis durchgeackert – bei über 1000 Speakern ist das alleine eine Arbeit von gut zwei Stunden.

Das Ergebnis war ein sehr straffer Montag, ein etwas löchriger Dienstag und ein ebenfalls sehr gefüllter Mittwoch. Was etwas auf der Strecke geblieben ist bei all der Planung, waren die Zufallserlebnisse und damit auch die überraschenden Themen.

Vorab: Geht hin!

Wer sich für Politik und Kultur interessiert, sollte zur re:publica gehen. Ob man was mit der Digitalwirtschaft zu tun hat, ist egal. Kann sogar störend sein. Und: glaubt ja nicht was in den Zeitungen zur re:publica steht. Keine Ahnung was da in Deutschlands Redaktionsstuben los ist. Schon eher weiss es der Knüwer.

Oder auch nicht!

Wer aber eine Veranstaltung zum „networken“ sucht und nicht aus dem Medienbereich kommt, oder auch nicht im Stiftungs- und Politikumfeld zuhause ist, der sollte lieber woanders hingehen. Für Euch gibt es die OMR und diverse andere Formate. Die haben leckere Häppchen, alle haben gute Laune und einen Bausparvertrag. Ist toll da. Wirklich. Good Times – Noodle Salad.

Los geht’s:

tl;dr: Mottokritik

Das Thema der rp19 sah aus der Ferne etwas albern aus, „tl;dr“ schien widersprüchlich und auch nicht so elegant wie TEN/NET oder LOL (Love Out Loud) oder auch „Into the Wild“. Bei näherem Hinsehen, von der Website (oben rechts auf den tl;dr-Kreis klicken), den Tafeln neben der Bühne, die Beschriftung der Lanyards und schließlich der wunderschönen Moby Dick-Installation, entpuppte sich das Motto als etwas, das ich unumwunden als „tolle Idee“ bezeichnen muss, die obendrein auch noch erlebbar, überzeugend und charmant umgesetzt wurde.

Tag 1: Alles eine Nummer größer

Der Bundespräsident eröffnete mit einer Rede, die eine Lobpreisung der guten Debattenkultur, der Betrachtungstiefe und der gegenseitigen Achtung im Diskurs war. Alles sehr staatsmännisch, vielleicht etwas zu routiniert vorgetragen, aber ein paar schöne Sätze sind doch dabei rumgekommen. Mein Lieblingssatz war dieser: „Demokrat sein heisst, sich und anderen zu erlauben auf der Suche zu sein“. Also zuzulassen, dass die Debatte etwas bewirkt, dass politische Meinungsbildung ein Prozess ist und immer bleibt und dass eine Debatte in der der Ausgang nicht wenigstens ein bisschen offen ist, eben auch keine ist.

Nanjira Sambuli von der World Wide Web Foundation folgte auf Herrn Steinmeier und sprach darüber wie der Informationsüberfluss gezielt genutzt wird, um Macht zu erlangen oder zu erhalten. Auch der Bundespräsident hörte hier noch sichtlich interessiert zu. Die Präsenz Afrikanischer Online Aktivisten ist damit wohl endgültig in der ersten Reihe der re:publica angekommen.

Es folgten ein paar low-lights, die ich dementsprechend nicht weiter mit Links verzieren möchte.

  • Mikael Colville-Andersen – unerträgliches Phrasengewitter eines Berufsjugendlichen
  • Too late; didn’t react – nichts neues von Christoph Keese und erstaunlich uninspiriertes aus dem Innovation Lab von Daimler
  • Bundesminister Hubertus Heil – sympathisch, aber inhaltlich dünn. Schade und merkwürdig, denn die „Denkfabrik“, eine Bühne die vom BLM gefördert und teilweise auch bespielt wurde, hatte ein Programm mit beträchtlichem Tiefgang.

Interessant waren hingegen:

AI is More Than Math: Using Art and Design to Interrogate Bias in AI
Caroline Sinders: grundsätzlich den Datensatz auf dem ein Machine Learning Versuch aufsetzt, als politisch-gesellschaftliches Mittel zu verstehen und der Frage nachzugehen „How can we create data to be an act of protest against algorithms?“
Hier geht es zum Programmeintrag und hier zum Videomitschnitt.

Dark side of your digital profile (or: how did it happen that we lost control?)
Katarzyna Szymielewicz: für alle die es noch nicht wussten: es gibt keine Opt-out Möglichkeit aus dem Profiling, solange man sich in einer Gesellschaft befindet, die 1. vom mitmachen ausgeht 2. für alle die nicht mitmachen die Daten einfach extrapoliert. Das Wesentliche Buch dazu ist Zuboff’s „The Age of Surveillance Capitalism„.

Programmeintrag und Videomitschnitt eines fast wortgleichen Vortrags bei der Lambda-Konferenz

Nicht der Rede wert:
Die immer wieder überraschend stark besuchte alljährliche „Lobotomie“. 10 Minuten gepresstes Geknödel im immer weniger witzigen Duktus waren mir genug.

„Das digitale Quartett“: bin kurz reingegangen, habe dabei beinahe die 4 Leute auf der Bühne und die 3 Leute im Publikum geweckt, deswegen leise wieder ausgeschlichen.

Tag 2: Abgesang zum Abgesang zum Abgesang auf das Internet

Um es vorweg zu nehmen: der Dreh- und Angelpunkt „meiner“ rp19 war wohl der Vortrag von Frank Rieger am zweiten Tag.

Nun interessiert mich das Thema Cyberwar generell nicht besonders, aber was Frank Rieger hier deutlich gemacht hat, ist wie die Zersetzung der Demokratie funktioniert. (Ein paar Tage danach gab es dann diese passende Meldung bei SPON.)

Warum ist das so wichtig? Weil es mir klar gemacht hat, dass die Funktion der Verstärkung konfliktträchtiger Memes, „Nachrichten“ und Falschmeldungen nicht eine bestimmte politische Richtung, sondern die Zerfaserung der demokratische Grundordnung zum Ziel hat. Das ist einerseits Selbstschutz totalitärer Regime, die die Beispielwirkung der Freiheit der Anderen mit guten historischen Gründen fürchten. Andererseits ist es der Aufbau von Abhängigkeiten, um diese beizeiten zur Einflussnahme einsetzen zu können. Bereits heute macht die Größe des Netzwerks bzw. der „Community“ Unternehmen wie Google, Facebook usw. so wertvoll. Im politischen Raum ist die Währung eine andere, aber die Funktion dieselbe.

Eine besondere Überzeugungskraft hat diese Analyse auch deswegen entfaltet, weil sie diese Art der Propaganda als eine Art Erfüllungsgehilfin der Postmoderne versteht. (Zb. hier gibt es einen guten Artikel dazu, wie Philosophie und Politik sich in diesem Begriff berühren). Und für jene die eher an Täter als an Paradigmen glauben, gibt es auch eine schön schillernde zentrale Figur: Vladislav Surkov.

Sonst noch sehenswert am Dienstag waren:

Wie immer sehr klug weitergedacht und mit brutaler Schärfe vorgetragen: Evgeny Morozov mit „Digital Power and Its Discontents„. Gibts aber (noch nicht?) auf Video.  Morozov trat schon bei der re:publica 2010 auf, um Jubelpersern wie Jeff Jarvis den Luft aus dem Glauben an die schöne neue digitale Welt zu lassen. (Zum nachsehen: A Twitter Revolution without revolutionaries?)

Auch sehr schön: Der Geist des digitalen Kapitalismus – Solution und Techno-Religion von Oliver Nachtwey

Da kam also ein Soziologe der in Basel lehrt und führte die Heilsvorstellungen der Silicon Valley Propheten Zuckerberg, Kurzweil, Jobs und anderen auf Calvin und Zwingli zurück. Nach Meinung der re:publica-kritischen Welt, einer der zentralen Vorträge. Meiner Meinung nach, eher gute Unterhaltung, für Leute die auf sowas stehen. Ich zum Beispiel.

Finale: YOU ARE THE UNREQUITED, ARE YOU READY TO FLEX!

Schlußendlich beendete Marcus John Henry Brown am Abend seine dystopische Trilogie „The Passing“ mit einer fulminanten Schlußvorstellung: The Flex.

Mr. Brown ist ein begnadeter Performer, der das Publikum in sein ein-Mann Schauspiel einbezieht und in einen schlüssigen Wahn versetzt. In dieser dritten und letzten Episode werden die Zuschauer zu den hoffnungslosen Fällen einer ansonsten bereits durchindoktrinierten Gesellschaft von „Hustlepreneurs“ und „Influencern“. Die Polizisten sind Sicherheitsinfluencer, die Ärzte sind Gesundheitsinfluencer. Alle Menschen sind Marken und bearbeiten alle anderen mit ihrer Botschaft. Es ist ein Mikado der sendungsverpflichteten „Säulen“ einer Gesellschaft, die sich per Design auf Streichholzbeinen aufrecht hält. Das Verhaltensprogramm um sie in dieser Rolle einzuspannen heisst FLEX und sein Erfinder steht nun vor uns auf der Bühne und macht uns klar, dass dies unsere letzte Chance ist. „YOU ARE THE LAST BATCH; THE LAST CATCH“

Ich weiss nicht, ob die klaustrophobische Stimmung, die komödiantische Finesse und die Derwisch-artige Bessenheit Brown’s von seiner Figur und dessen „Endlösung“ sich im Video nacherleben lässt. Aber im Saal war es ein Gänsehautfest. Danke dafür!

Tag 3: Mittwoch: Jeder nur ein Kreuz!

Am Mittwoch morgen herrscht also Katerstimmung, das Internet ist kaputt, das haben gefühlte 100 Vortragende auf 20 verschiedene Arten und Weisen schon gesagt. Das „trotzdem“ das Sascha Lobo vor ein paar Jahren gefordert hat und das viele gerne initiiert hätten ist ausgeblieben. Die re:publica müsste also das Treffen der fröhlichen Totengräber und/oder auch das Besäufnis der Verdrängungsathleten sein. Und sie ist auch ein wenig beides. Man riecht förmlich von Ferne die etwas zu gut gelaunten Ahnungslosen, die Touristen aus den Software-Unternehmen und den Jugendinitiativen, lächelt mitleidig und genießt den Ennui während der Beschwörung des Untergangs. Unter Journalisten und Politikern erlebt man eine Leistungsdichte im High-End Zynismus, die, obgleich abstoßend, auch Achtung verlangt. So kaputt musste auch erstmal sein, dagegen riecht Berlin wie Singapur.

Und weil wenn nichts mehr hilft, immer unser aller Mama, die Kunst, mit offenen Armen daher kommt, besucht uns die Tante Bille. Die haut uns ein saucooles Second Wave Grime Stück (von t.roadz, der schon mit 13 eine Macht war) um die Ohren und liest uns was vor. Aus ihrem neuen Buch „GRM Brainfuck“, zusammen mit Katja Riemann und unterbrochen durch Fragen der (ebenfalls großartigen) Nora Al-Badri. Zum Schluss schultert sie ihr Handgepäck um dem postindustriellen Brachland Berlin wieder gen Zürich zu entfliehen, ruft noch schnell „Gute Heimreise nach Wanne-Eickel, Tschüssi!“ und geht. Beautiful Freak.

Man weiss ja schon, am Abend kommt der Astro-Alex und am Ende wird „Bohemian Rhapsody“ gesungen. Wird also schon noch alles gut ausgehen hier.

Auch noch sehenswert:

(trotz saublödem „Akte xyz“-Titel“: Die Akte Hannibal – ein Werkstattbericht
Ein Bericht des TAZ-Teams, dass ein Netzwerk von Soldaten, Polizisten, Reservisten, Verfassungsschützern und Freizeit-Preppern aufgedeckt hat. Journalismus bei der Arbeit einerseits. Ist auch alles irgendwie bedenklich und auch etwas ärgerlich. Vor allem aber wieder so ein Beispiel, wie saudumm selbsternannte Durchblicker doch sein können.

Man hätte das auch als Theaterstück mit Kasperl und Seppl aufführen können. In Tarnklamotten und mit Waffenattrappen.

Auch noch gesehen: Margarethe Vestager „Fairness and Competitiveness in a Digitised World“ die von einem ziemlich nervös wirkenden Fanboy namens Alexander Fanta (anscheinend kein Künstlername) diffus befragt wurde (im Sinne von diffus bewässert). Spannender Moment den der kluge, aber eben leicht indisponiert wirkende Interviewer leider ungenutzt verstreichen liess: als Frau Vestager sagte, dass die Zerschlagung der großen Plattformen eventuell gar nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte und auch die Interventionen zur Wiederherstellung des Wettbewerbs in vielen Fällen gar nicht den erwünschten Erfolg gebracht hätten. Man denke da auch mal an Rockefeller, dessen Imperium nach der Zerschlagung erst richtig wuchs. Aber gut. Nächstes mal.

Der Rest des konsumierten Programms bleibt unerwähnt. Aus Gründen.

Fazit für die rp20: genau so viel Planung, aber weniger dran halten

Ich habe ca 30 Sessions gesehen, habe mich nicht von sonstigen Verabredungen wie Freunde treffen usw. in Berlin ablenken lassen (Pro-Tipp: einfach mit Freunden hingehen!), habe mich viel besser vorbereitet und bin erst nach Hause gegangen, wenn das Programm alle war. Soweit also alles gut. Was ich beim nächsten mal anders machen will: mehr in Vorträge reinlaufen ohne zu wissen worum es da geht und wer da spricht. So mancher Zufallsfund der letzten Jahre ist mir so abhanden gekommen.

Vielleicht machen wir (Alex de Werth und ich) auch ein Meet-Up im Zug auf dem Weg zur rp20 wo wir uns mit anderen über unsere Planung austauschen. Watch this space.

Gute Heimreise nach Wuppertal, Tschüssi!

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